Sarah-Lee Heinrich im Gespräch : „Armut ist kein Naturgesetz“
Über soziale Politik, Hürden für Arbeiter*innenkinder und Allianzen: Sarah-Lee Heinrich, die Bundessprecherin der Grünen Jugend, im Gespräch
taz lab, 04.04.22 | Interview von CINDY ADJEI
taz lab: Frau Heinrich, wie sind Sie zur Politik gekommen?
Sarah-Lee Heinrich: Politisch interessiert war ich schon sehr früh. Im Politikunterricht haben wir mal über die Agenda 2010 geredet, etwas, worunter ich selbst gelitten habe, weil wir von Hartz IV gelebt haben. Das war das erste Mal, dass ich verstanden habe, dass Armut kein Naturgesetz ist, sondern ein politisches Problem. Die Agenda 2010 war eine Entscheidung im Sinne der Arbeitgeber*innen, viele Arbeiter*innen leiden unter den Folgen. Aber Entscheidungen kann man ändern. Das hat mich sehr inspiriert und mir den Ruck gegeben, mich politisch einzubringen.
Wie war es als Arbeiter*innenkind, in der Hochschule anzukommen?
Extrem verwirrend anfangs und auch überfordernd. Ich habe die Einschreibedokumente falsch ausgefüllt und so fast den Einschreibetermin verpasst. Auch weil ich niemanden hatte, den ich fragen konnte haben mich viele Abläufe verwirrt und Corona hat es nicht leichter gemacht.
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Und in der Politik, fühlen Sie sich benachteiligt als Arbeiter*innenkind?
Ich komme nicht aus einem Haushalt, wo wir die „Tagesschau“ geguckt haben. Tagesaktuelle Debatten oder den Politikbetrieb habe ich lange nicht verstanden. Mein Hack war, dass ich beim Hausaufgabenmachen die „Bundespressekonferenz“ von Tilo Jung geguckt habe. Das war quasi ein Crashkurs. Mir hat natürlich eine Menge gefehlt, andererseits gibt mir mein Hintergrund auch sehr viel: einen anderen, emotionalen Bezug zu Menschen, die zum Beispiel im Niedriglohnsektor arbeiten. Das erdet mich auch.
In der Politik wird häufig über Niedrigschwelligkeit diskutiert. Glauben Sie, dass es innerhalb der Grünen Jugend Hürden für Arbeiter*innenkinder gibt?
Die gibt es generell in der linksliberalen Blase. Auch bei den Grünen und der Grünen Jugend werden bestimmte politische Debatten sehr akademisch geführt. Welche Themen im Fokus stehen, unterscheidet sich je nach Lebensrealität total.
Möchten Sie Ihren Arbeiter*innen-Begriff kurz teilen? Akademiker*in sein bedeutet für Sie nicht, dass man nicht auch gleichzeitig zur Arbeiter*innenschicht gehören kann.
Ich habe mich lange nicht gefühlt wie eine Arbeiterin oder meine Familie da nicht eingeordnet, weil wir arbeitslos waren. Aber das ist eben ein Trick von Liberalen, Arbeitslose und Arbeiter*innen voneinander abzuspalten. Deshalb tut es uns auch nicht gut, Arbeiter*innen mit Hochschulabschluss gedanklich von Arbeiter*innen zu trennen, die keinen Hochschulabschluss haben. Es gibt Unterschiede im Habitus, wie man aufwächst, auch in welcher Schicht, und die sollte man gar nicht kleinreden. Aber eigentlich wären wir doch am stärksten, wenn wir uns zusammenschließen würden. Deshalb sind für mich Arbeiter*innen Menschen, die keine Unternehmen besitzen und eben arbeiten gehen müssen.
Eine gute soziale Politik, wie würde die für Sie aussehen?
Dass niemand in Armut lebt und dass alle Menschen ein gutes Leben haben: Einem Job nachzugehen, den du liebst, mit dem du etwas Positives zum Gemeinwohl beitragen kannst, bei dem du gut verdienst und gute Arbeitsbedingungen hast. Eine soziale Politik heißt für mich, dass die Dinge, die wir zum Leben brauchen, auch Grundbedürfnisse sind, dass damit keine Profite gemacht werden. Die Grüne Jugend hat keinen Hehl daraus gemacht: Wir finden den Koalitionsvertrag, besonders den Sozialteil, nicht gut. Hartz IV wird nicht abgeschafft, es gibt keine ordentliche Mietpreisbremse und keine Bürgerversicherung. Ich erwarte, dass die Grüne Partei das soziale Korrektiv in der Ampel ist und sich für soziale Belange einsetzt, wenn das die SPD nicht hinbekommt. Dafür kämpfe ich mit der Grünen Jugend.
Sarah-Lee Heinrich live auf dem taz lab: „Proletariat spricht“, Dark Room, 13 Uhr.